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Titel
Wissen über Sex. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung im Spannungsfeld westdeutscher Wandlungsprozesse


Autor(en)
Liebeknecht, Moritz
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Springmann, Sportmuseum Berlin (Senatsverwaltung für Inneres und Sport)

2022 sind sowohl der Deutsche als auch der Schweizer Buchpreis an Kim de l’Horizon vergeben worden, eine genderfluide nichtbinäre Person. In ihrem Roman „Blutbuch“ setzt sie sich intensiv mit den Bedeutungen auseinander, die Zuschreibungen von Geschlecht und Sexualität für Menschen haben – oder anders gesagt: welche Zumutungen solche Zuschreibungen für sie bedeuten können.1 Ein beredtes Beispiel dafür ist das 1980 verabschiedete bundesdeutsche „Transsexuellen-Gesetz“. Die 1949 vom Mediziner und Sexualwissenschaftler Hans Giese gegründete Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) hatte maßgeblich dazu beigetragen, wie und welches Wissen über Sexualität in der „alten“ Bundesrepublik zirkulierte und im Recht Niederschlag fand. Dabei standen weder die DGfS noch Hans Giese für Fortschrittlichkeit oder Emanzipation. Vielmehr waren die Mitglieder der DGfS über viele Jahre für forensische Gutachten zuständig und damit mitverantwortlich für die Beurteilung und Kategorisierung dessen, was als „anständige“ oder als „perverse“ Sexualität zu gelten habe.

Moritz Liebeknecht hat sich in einer detaillierten Studie mit der Geschichte der DGfS und deren Beteiligung an der Wissensbildung über Sexualität intensiv auseinandergesetzt. Dabei liegt sein Augenmerk vor allem auf der Geschichte der Institution und deren Gründer Hans Giese. Ausgewertet hat er dafür umfangreiches Quellenmaterial, unter anderem interne Dokumente der DGfS, Rundschreiben der amtierenden Vorstände an ihre Mitglieder, Programmhefte sowie Einladungsschreiben zu wissenschaftlichen Tagungen, Protokolle der Mitgliederversammlungen, informelle Korrespondenz zwischen einzelnen Vorstandsmitgliedern sowie die ab den 1970er-Jahren erstellten Protokolle der Vorstandssitzungen. Ein Großteil dieser Dokumente ist im Nachlass von Hans Giese im Bundesarchiv Koblenz überliefert. Dazu kommen der Nachlass von Günter Amend im Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sowie Akten des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Liebeknecht hat ebenfalls Briefwechsel der einzelnen Mitglieder wie etwa von Volkmar Sigusch oder auch Korrespondenzen zwischen Hans Giese und Kurt Hiller gesichtet. Darüber hinaus hat der Autor auch Interviews u.a. mit Martin Dannecker und Volkmar Sigusch geführt.

Gegliedert ist die Studie in sechs Kapitel, inklusive Einleitung und Schlussteil. Aufgrund der Bedeutung von Hans Giese mit Blick auf den Zeitraum 1920–1970 beginnt Liebeknecht folgerichtig im zweiten Kapitel mit dessen Werdegang. Während seines Studiums der Medizin, Philosophie und Germanistik engagierte sich Giese im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund und übernahm die Funktion des Amtsleiters für politische Erziehung und Kameradschaftserziehung (S. 46). Er war Mitglied der NSDAP und ein großer Sympathisant völkisch-männerbündischer Theorien. Giese promovierte bei Werner Villinger, der während des Nationalsozialismus als Gutachter an der Krankenmord-Aktion „T4“ beteiligt war, mit einer Arbeit über die „Die Formen männlicher Homosexualität. Untersuchungen an 130 Fällen“. Villinger, von 1958 bis 1961 Vorsitzender der DGfS, hatte u.a. die Kastration von Sexualstraftätern befürwortet.

Wie Liebeknecht betont, habe Giese versucht, sein „homosexuelles Begehren mit dem jeweils vorherrschenden Moral- und Wertesystem in Verbindung zu bringen“ (S. 48), um so – Volkmar Sigusch zitierend – „als ein anständiger, kultivierter Mensch […] anerkannt zu werden“.2 In diesem Zusammenhang zeigte er unterschiedliche Spielarten von Homosexualität auf und schlug entsprechende Kategorisierungen vor.

Bereits 1949 beschäftigte sich Giese mit der Gründung eines sexualwissenschaftlichen Forschungsinstituts; als offizielles Gründungsdatum wird der 1. Juni 1949 genannt (S. 51). Das Institut war zunächst ein Dreipersonenbetrieb: Giese selbst, seine Schwester Evamarie Giese sowie die nicht namentlich genannte Tochter einer den Gieses bekannten Familie. Hans Giese nahm bereits zu diesem Zeitpunkt Kontakt zum Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz auf. Auch mit Kurt Hiller, einem der Weggefährten von Magnus Hirschfeld, setzte er sich in Verbindung. Allerdings schien Giese die inhaltliche Linie des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees (dieses hatte sich in der Weimarer Republik für die Entkriminalisierung mann-männlicher Homosexualität eingesetzt) nicht klar gewesen zu sein (S. 54). Zum Zerwürfnis zwischen Hiller und Giese kam es deswegen, weil Giese keineswegs eine vollständige Abschaffung des Paragraphen 175 StGB forderte, vielmehr sogar vorschlug, zunächst zur Version des Paragraphen vor dessen Verschärfung durch die Nationalsozialisten zurückzukehren. Hiller hingegen, der sich bereits in der Weimarer Republik für die Abschaffung des Paragraphen 175 stark gemacht hatte, blieb nur zu konstatieren, dass Giese von der Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung offensichtlich keine Ahnung habe (S. 60).

Wofür aber genau stand Giese in den entsprechenden Debatten nun inhaltlich? Diese Frage zieht sich – subkutan – durch die Studie, und Liebeknecht scheut sich davor, sie eindeutig zu beantworten. Denn einerseits verhielt sich Giese durchaus ambivalent gegenüber seinem berühmtem Vorgänger Magnus Hirschfeld, institutionell sah er sich durchaus in dessen Traditionslinie. Andererseits wollte er auf keinen Fall in einen Topf mit ihm geworfen werden, da er nicht als Befürworter eines devianten Sexualverhaltens wahrgenommen werden wollte.

Diese Scheu markiert den eklatanten Unterschied zwischen den Protagonisten der Diskursarena in den 1920er- (und Folge-)Jahren. Während Hirschfeld oder auch Hiller Homosexualität weder als pervers noch als deviant wahrnahmen, blieb Giese Zeit seines Lebens einem heteronormativen Modell von Sexualität verhaftet, auch wenn er selbst homosexuell liebte und begehrte. Dementsprechend kann die Gründungstagung des DGfS im Jahr 1949 als beredtes Beispiel dafür genommen werden, in welchem Umfeld sich Giese wissenschaftlich verortete: Teilnehmer waren u.a. der Psychiater Hans Bürger-Prinz sowie Otmar Freiherr von Verschuer, Doktorvater von Josef Mengele und einer der profiliertesten Rassenhygieniker im Nationalsozialismus.

Wie sich die DGfS im Rahmen dieser – personellen wie diskursiven – Kontinuitäten und Moralvorstellungen positionierte, ist das Thema des dritten Kapitels. Dass Sexualität in den 1950er-Jahren einerseits ein Tabuthema war, andererseits aber medial breit verhandelt wurde, hat bereits Sybille Steinbacher gezeigt.3 Liebeknecht stellt fest, dass sich innerhalb der DGfS zwei Hauptströmungen ausmachen ließen: die medizinisch-psychiatrisch orientierte Sexualforschung aus der Zeit des Nationalsozialismus, also Erbbiologen, Eugeniker und Rassenhygieniker sowie Wissenschaftler, die sich auf Phänomenologie fokussierten. Bürger-Prinz war der Präsidenten der Fachgesellschaft. Giese gelang es, zahlreiche Wissenschaftler nicht nur für die DGfS, sondern auch für den Beirat der Zeitschrift für Sexualforschung zu gewinnen. Zu den Hauptaufgaben der Gesellschaft zählten Eheberatungen, aber auch Kooperationen mit pharmazeutischen Unternehmen, vor allem aber trat eine Reihe ihrer Mitglieder als forensische Gutachter in Erscheinung, besonders bei Verstößen gegen Paragraph 175 (S. 143).

Im Laufe der 1950er-Jahre suchte Giese nach einem universitären Anschluss. 1959 wurde er mit der Studie „Der homosexuelle Mann“ bei Bürger-Prinz in Hamburg habilitiert. Das Institut zog nun von Frankfurt am Main nach Hamburg um. Fünf Jahre zuvor war die Kinsey-Studie in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden, zu der sich die DGfS positionieren musste. Innerhalb der DGfS wurde die Studie, ob ihres Augenmerks auf sexuelle Vielfalt, eher als Bedrohung für die bürgerliche Ordnung wahrgenommen (S. 119) und entsprechend kritisch rezipiert.

Nicht verwunderlich ist es vor diesem Hintergrund, dass sich die Gesellschaft durchaus offen gegenüber Konversionstherapien zeigte. Immerhin räumte Giese ein, dass das Ziel einer therapeutischen Behandlung darin bestehen müsse, „den einzelnen auf irgendeine Weise mit seiner speziellen Triebrichtung zu versöhnen“ (S. 135). Dabei solle „einem Homosexuellen zu einem relativ normgemäßen Lebensstil“ verholfen werden (S. 137).

Doch wie verhielten sich nun Giese bzw. die DGfS gegenüber den zunehmenden Forderungen nach Entkriminalisierung von (mann-männlicher) Homosexualität? Eher zögerlich. Vielmehr engagierten sie sich sogar für eine strenge Kastrationsgesetzgebung. Liebeknecht bezeichnet diese Haltung als „Ambivalenz zwischen Tradition und Moderne“ (S. 159). Diese Einschätzung teile ich nicht, scheint doch die DGfS Emanzipationsbestrebungen und -bewegungen zeitgenössisch einfach nicht zur Kenntnis bzw. diese nicht ernst genommen zu haben. Ein Umdenken fand erst ab Mitte der 1970er-Jahre statt, also nach Gieses Tod. Dann sorgten jüngere Akteure wie z.B. Volkmar Sigusch oder Günter Amendt für einen Paradigmenwechsel (S. 160).

Die Studie von Moritz Liebeknecht ist detailreich und sehr gründlich gearbeitet. Dass ich manche Einschätzungen des Autors nicht teile, tut dem insgesamt hervorragenden Eindruck keinen Abbruch. Vor allem der Sichtung und „Bändigung“ der umfangreichen Quellen gilt Respekt. Anzumerken ist aber dennoch, dass gerade mit Blick auf die forensischen Gutachten Menschen an der von der DGfS eingenommenen Position gelitten haben. Dies kontrastierend in künftige Untersuchungen miteinzubeziehen, würde vielleicht eine Ahnung davon vermitteln, welche Definitionsmacht hinsichtlich dessen, wie Sexualität und gesellschaftliche Ordnung auszusehen hätten, die DGfS für sich beanspruchte. Dass Frauen und deren Positionen überhaupt keine Berücksichtigung fanden, unterstreicht diesen Befund, den Liebeknecht leider nicht explizit genug herausarbeitet.

Hans Giese hat längst seinen wissenschaftlichen Einfluss verloren. Nicht zuletzt in der Zusammenschau mit der Jahrzehnte später erfolgten Verleihung des Deutschen und des Schweizer Buchpreises an „Blutbuch“ verdeutlicht diese Tatsache, wie sehr Wissen über Sex zeitlich und gesellschaftlich gebunden ist.

Anmerkungen:
1 Kim de l’Horizon, Blutbuch, Köln 2022.
2 Volkmar Sigusch, Hans Giese, in: Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt am Main 1993, S. 251–258, hier S. 255.
3 Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011.